Das Land, das uns heute als Jemen bekannt ist, hat eine reiche Geschichte und Kultur, die tausende von Jahren zurückreicht. Der moderne Staat ist jedoch relativ jung; er wurde erst 1990 gegründet, als der kommunistische Süden (der früher vom Britischen Weltreich kontrolliert und dann von der UdSSR unterstützt wurde) und die jemenitisch-arabische Republik im Norden von Präsident Ali Abdullah Saleh vereinigt wurden. Kämpfe zwischen dem Norden und Süden brachen zu zahlreichen Gelegenheiten aus, sodass die Gewalt zwischen den Stämmen und die politischen Uneinigkeiten zu Interventionen von externen Mächten, wie zum Beispiel Saudi-Arabien, Iran und Ägypten, geführt haben. Seit 2015 ist Jemen in einen Bürgerkrieg verwickelt, der das Land wieder in zwei Staaten teilte und die aktuell größte humanitäre Krise der Welt verursachte.
Vision Hope ist seit langer Zeit in humanitären und Entwicklungsprojekten im Jemen tätig und die Bemühungen haben sich seit Beginn des Krieges verstärkt. Im März 2018 hatte das Kommunikationsteam von Vision Hope die Möglichkeit, ein schriftliches Interview mit dem deutschen Botschafter für den Jemen, Hansjörg Haber, zu führen. Das Interview behandelte sowohl die politischen Konflikte und die aktuelle humanitäre Krise, als auch die Bemühungen Deutschlands, das menschliche Leid des jemenitischen Volks zu lindern. Hier können Sie die Antworten des Botschafters zu unseren Interview-Fragen lesen:

Vision Hope International (VHI): Wie sehen Sie die Friedensverhandlungen nach dem Mord des Ex-Präsidenten Saleh, der ein etablierter und respektierter politischer Akteur im Jemen war, fortschreiten? Welchen Herausforderungen wird sich der Jemen in seiner Abwesenheit stellen müssen?
Hansjörg Haber: Ali Abdullah Saleh war ein großes Hindernis für die Friedensinitiative des Kooperationsrates der Golfstaaten. Wäre er früher von der Bildfläche verschwunden, wäre es vielleicht einfacher gewesen, den Konflikt zu beenden. Aber jetzt hat der Konflikt ihn und sein Erbe überlebt. Ich glaube, dass sich der Jemen noch immer den gleichen Herausforderungen stellen muss, wie vor seinem Tod; die wichtigste davon ist es, diesen Krieg zu beenden. Zurückblickend könnte man also schließen, dass Saleh keine so große Rolle gespielt hat, wie viele dachten.
VHI: Was macht Deutschland, um die menschengemachte Krise im Jemen zu lindern? Wie können humanitäre Projekte, die von Deutschland finanziert werden, das Risiko von Massenhunger reduzieren, insbesondere da Saudi-Arabien bewusst die Hilfsarbeit ins Visier nimmt (z.B. Bombenangriffe auf Kräne und ein Lagerhaus des World Food Programmes, und die Blockade von Ersatz-Kränen im Wert von 3,9 Millionen US-Dollar im Hafen von Hodeideh)?
Haber: Deutschland ist einer der größten Geber humanitärer Hilfe für den Jemen, aber erkennt an – und handelt dementsprechend -, dass humanitäre Unterstützung mit Entwicklungszusammenarbeit ergänzt werden muss – selbst inmitten eines Konflikts. Für all dies ist Zugang wesentlich und Deutschland setzt sich weiterhin bei den jemenitischen Behörden und der Saudi-arabischen Koalition ein für sicheren Zugang zu denen, die am meisten gefährdet und vom Krieg betroffen sind.

VHI: In vielerlei Hinsicht ist der aktuelle Krieg im Jemen ein Stellvertreterkrieg zwischen der Saudi-arabischen Koalition (sunnitisch) und den mit dem Iran verbündeten Gruppen (schiitisch), welcher zusätzlich vom Stammessystem im Jemen erschwert wird. Welche Maßnahmen und Absicherungen werden benötigt, um eine Versöhnung zu begünstigen, und wie können NGOs sicherstellen, dass die Grundbedürfnisse von Zivilisten, die im Konflikt gefangen sind, gedeckt werden ohne Ausbeutung durch kriegsführenden Parteien zu riskieren?
Haber: Der Krieg in Jemen hat Eigenschaften eines traditionellen Bürgerkriegs und eines Stellvertreterkriegs. Es ist die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, diese Verknüpfung auf diplomatischer Ebene aufzuschlüsseln. Vor Ort müssen wir uns auf etwas, das ich „NGO-Diplomatie” nennen würde, verlassen, um die Probleme in den verschiedenen Konfliktkreisen zu manövrieren.
VHI: 2016 gründete das deutsche Außenministerium eine Arbeitsgruppe, um das Thema der friedensstiftenden Kapazität der Religionen aufzugreifen und einen Plan zu formulieren, strategische Partnerschaften mit religiösen Führern und Organisationen zu bilden. Wie hat die deutsche Außenpolitik diese Strategien benutzt, um den Konflikt im Jemen anzugehen?
Haber: Diese Arbeit ist immer noch nicht erledigt. Wir suchen nach Wegen, diese Arbeit auf den Jemen anzuwenden, haben sie aber aus verschiedenen Gründen noch nicht gefunden; einer der Gründe ist wieder der Zugang. Und wir müssen das Zusammenspiel von Konfessionen und dem Konflikt besser verstehen. Wir neigen dazu, dies aus der Perspektive unserer historischen Erfahrungen zu sehen und sind daher vielleicht zu optimistisch, was das Potenzial dieses Ansatzes angeht. Aber die Arbeit ist noch immer notwendig und wir werden sie natürlich weiterhin verfolgen.
VHI: Anfang 2018 kündigte die deutsche Regierung ein Verbot von Waffenverkäufen an Länder an, die in den Jemen-Krieg verwickelt sind, inklusive Saudi-Arabien. Welche anderen Mechanismen hat die deutsche Regierung, um ihren Einfluss wirksam einzusetzen und einen Durchbruch im Lösen des Jemen-Konflikts zu erreichen?
Haber: Offensichtlich nicht genug, wenn man die Situation vor Ort anschaut. Aber ich glaube – und jemenitische Gesprächspartner stimmen regelmäßig zu -, dass Deutschland viel Soft Power im Jemen genießt, da wir nie eine interessierte Partei waren und dem Jemen konsequent Hilfe anbieten. Was wir nun tun müssen, ist einen Weg zu finden, diese Soft Power zu nutzen, um den UN-geführten Konfliktlösungsprozess zu unterstützen.
VHI: Johan Galtungs Ansatz zur Friedensstiftung ist ein Dreieck, welches aus den folgenden drei Aspekten besteht: Friedenswahrung (Einstellung allen gewalttätigen Verhaltens), Friedensschaffung (politische und strategische Haltungen angehen) und Friedensstiftung (friedlicher, sozialer Wandel durch Wiederaufbau und Entwicklung). Wie unterstützt die deutsche Regierung jedes dieser Elemente, um nachhaltigen Frieden zu fördern? Welches dieser Elemente ist die größte Herausforderung in der Unterstützung für den Jemen?
Haber: Ich glaube, die Friedenswahrung ist am schwierigsten. Letztendlich müssen das die Jemeniten selbst tun. Auf der anderen Seite sind sie traditionell sehr gut darin. Was die Friedensschaffung angeht, unterstützen wir den UN-geführten Prozess, haben aber auch unsere eigenen Kontakte innerhalb der Konfliktparteien. Zur Friedensstiftung haben wir noch immer eine große GIZ-Präsenz (Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit, Anm. d. Red.) mit über 140 Mitarbeitern und vielen deutschen NGOs, die vor Ort arbeiten. Deren Erfahrung und Kontakte sind sehr wertvoll, vor allem sobald wir einen ganzheitlichen, internationalen Ansatz zur Friedensschaffung im Jemen haben.

VHI: Das Geschlecht spielt eine große Rolle in der jemenitischen Kultur. Frauen werden oft als das schwächere Geschlecht angesehen, und Männer sind verpflichtet, sie zu beschützen. Frauen werden allgemein auch bei Entscheidungsfindungsprozessen ausgeschlossen. Aber Frauen spielen eine wesentliche Rolle im Erlangen von nachhaltigem Frieden, besonders auf der lokalen Ebene. Dies gilt besonders für den Konflikt- und Post-Konflikt-Kontext. Wie befähigt die deutsche Regierung jemenitische Frauen, Gewalt zu reduzieren und Frieden zu fördern?
Haber: UN Women leistet wertvolle Arbeit in diesem Bereich und Deutschland unterstützt diese. Dennoch ist diese Frage eine der schwierigsten zu beantworten. Der nationale Dialog hat sich viel mit der Befähigung, dem Empowerment, von Frauen beschäftigt, und was war das Ergebnis? Können wir Frauen befähigen oder müssen sie das selbst tun, wie das in den westlichen Gesellschaften der Fall war? Das kann ich nicht wirklich beantworten.

VHI: Weitverbreitete Nahrungsmittelunsicherheit und ein fragmentiertes Gesundheitssystem stellen enorme Herausforderungen für die humanitären Akteure dar, ebenso wie der Mangel an angemessenem Informationsmanagement und Datenüberwachungssystemen. Oft werden Zahlen übertrieben, um zusätzliche Unterstützung zu bekommen, insbesondere wenn es um Gesundheitsprobleme geht. Außerdem hat die Regierung bestimmte Anforderungen für die Erlaubnis von Datenerfassung und in manchen Fällen wurde humanitäres Personal für das Erfassen von Daten festgenommen. Wie ist die Verlässlichkeit von Daten in Anbetracht dieser Probleme gesichert, damit der Erfolg von deutschen Projekten im Jemen evaluiert werden kann?
Haber: Ich glaube, das Ziel, verlässliche Daten zu bekommen, wird uns weiterhin versagt bleiben, bis wir wieder Frieden und einen funktionierenden Staat im Jemen haben. Wir müssen mit dem auskommen, was wir haben. Manchmal sind Daten sehr gut, wie zum Beispiel die vom Social Fund for Development. Wir werden einfach keine in Stein gemeißelte Daten haben. Datenerhebung ist eine laufende Arbeit, und wir müssen vernünftig interpretieren, was wir haben.
VHI: Jemen ist eines der Länder mit der höchsten Anzahl an Waffen pro Einwohner: ca. 55 Waffen pro 100 Einwohnern. Es hat auch die höchste Anzahl von Massenerschießungen in Ländern mit mehr als 10 Millionen Einwohnern. Erschießungen aus einem vorbeifahrenden Fahrzeug sind besonders problematisch. Wie geht Deutschland dieses Problem an? Sind Verhandlungen geplant, den Jemen zu ermutigen, das Waffenhandelsabkommen von 2014 zu ratifizieren? Wird Deutschland eine Rolle in einer Nachkriegszukunft übernehmen, um Waffenreduzierungsinitiativen und Sicherheitssektorreformen zu fördern, um die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls in einen Konflikt zu verringern? Wenn ja, welche?
Haber: Trotz des hohen Waffenbesitzes pro Kopf hatte der Jemen in der Vergangenheit Stammeskonflikte mit sehr wenigen Opfern und einer hohen Bereitschaft, Mediation in den Anfängen eines Konflikts zu akzeptieren. Was ich sagen will, ist, dass der Jemen dieses Problem bewältigen muss und kann, sobald der Konflikt gelöst ist. Aber es funktioniert nicht umgekehrt: die Ratifizierung des Waffenhandelsabkommen und der Versuch, Waffenbesitz einzuschränken, wird nicht automatisch den Konflikt lösen.

VHI: Der Stellvertreterkrieg und die örtlichen Konflikte stehen momentan still, weil die größten Parteien Verhandlungen verweigern. Welche Maßnahmen werden benötigt, um eine Verhandlungsbereitschaft zwischen den Konfliktparteien zu schaffen? Gibt es eine Bereitschaft zwischen den kleineren Parteien, örtliche Waffenstillstände zu erreichen? Wenn ja, wird diese Bereitschaft genutzt, um kleinere Feindschaften zu beenden? Wie wirkt sich der asymmetrische Charakter des Konflikts auf diese kleinen Initiativen aus?
Haber: Das ist nun die Herausforderung für den Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Martin Griffiths. Wir werden alles tun, um ihn dabei zu unterstützen anstatt das Rad selbst neu zu erfinden. Aber es gibt zum Beispiel schon eine Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen, die sich mit den Herausforderungen der Abrüstung, Demobilisierung und Reintegration, auch auf kommunaler Ebene, auseinandersetzt. Und es gibt ein deutsches Pilotprojekt zur Kommunalverwaltung, welches natürlich die Aufgabe hat, Recht und Ordnung auf Kommunalebene aufrecht zu erhalten.
VHI: Zwei Millionen Kinder sind momentan nicht in der Schule und fast dreiviertel der Lehrer an öffentlichen Schulen haben seit über einem Jahr kein Gehalt mehr bekommen, sodass zusätzlich 4,5 Millionen Kinder von Bildungsnot bedroht sind. Das Potenzial einer „verlorenen Generation“ hat vielfältige Problemen zur Folge, wie zum Beispiel frühe Verheiratungen, Kinderarbeit und die Rekrutierung von Kindersoldaten. Es stellt auch eine Bedrohung für die Langzeitentwicklung des Landes dar. Wie kann durchgehende Bildung gesichert werden und welche Maßnahmen haben schon stattgefunden?
Haber: Das ist ein sehr wichtiger Punkt, da eine Generation ohne Bildung leicht von Kriegsherren und anderen Störern des Friedensprozesses ausgenutzt werden kann. Ein sehr wichtiger Faktor (und ich will betonen, dass es noch viele andere gibt, die genauso berücksichtigt werden müssen) ist die Zahlung von Gehältern im öffentlichen Sektor, insbesondere die der Lehrer. Und das ist eng mit den Problemen der Zentralbank verknüpft, wofür die internationale Gemeinschaft jetzt intensiv nach Lösungen sucht.

Vision Hope möchte Botschafter Haber danken, dass er sich die Zeit genommen hat, unsere Fragen über den Konflikt im Jemen und die internationalen Reaktionen zu beantworten. Er wiederholt die Überzeugung von Vision Hope, dass das jemenitische Volk historisch sehr gut im Lösen von Konflikten war. Sobald der Stellvertreterkrieg gelöst ist, werden die Jemeniten wahrscheinlich ihren eigenen Frieden mit der Unterstützung von internationalen Organisation und Institutionen verfolgen.
Zusammen mit der Konfliktlösung sind die finanzielle Förderung von Bildung, die Verbesserung der Nahrungsmittelsicherheit und die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit weitere wichtige Maßnahmen im Friedensbildungsprozess. Vision Hope bildet weiterhin Partnerschaften mit Institutionen, wie zum Beispiel der deutschen Regierung, um sich für diese Bereiche einzusetzen und mit örtlichen jemenitischen Organisationen zusammenzuarbeiten, um Zugang zu Orten zu bekommen, die am meisten Hilfe benötigen. Sobald der jemenitische Staat wieder funktioniert, sollen zusätzliche Partnerschaften mit der jemenitischen Regierung genutzt werden, um Interessensvertretung für benachteiligte Gruppen zu fördern und Entwicklungsprojekte zu implementieren, die eine langfristig die Kapazitäten des Landes für Frieden und Gerechtigkeit fördern.