Teil 1: Ursachen von Kinderehe
Stellen Sie sich vor, Sie leben in extremer Mittellosigkeit – so extrem, dass Sie Ihre jugendliche Tochter nur versorgen können, wenn Sie sie verheiraten. Dass ihr zukünftiger Mann doppelt so alt ist wie sie, ist nur ein unwichtiges Detail. Dieser Zustand absoluter Armut ist für eine wachsende Zahl syrischer Familien eine bittere Realität.
Der Konflikt in Syrien hat zu einer Zersplitterung einer einstmals blühenden Gesellschaft und zur Entwicklung schwerer gesellschaftlicher Probleme geführt, welche weitreichende Auswirkungen haben. Eines dieser gesellschaftlichen Probleme ist die Kinderehe. In vielen Gegenden in Syrien war dieser Brauch schon vor dem Bürgerkrieg akzeptiert und bis zu 13% der Mädchen unter 18 Jahren waren verheiratet. Allerdings ist die Zahl der Kinderehen seit dem Beginn des Krieges dramatisch in die Höhe geschossen. In manchen Gegenden, wie zum Beispiel dem Libanon, sind über 40% der vertriebenen syrischen Mädchen unter dem Alter von 18 Jahren verheiratet. Diese Zahlen sind die direkte Folge des Kriegs und setzen syrische Mädchen noch größerem Leid aus als den eh schon traumatischen Erfahrungen des Krieges.
Gewalt
Der Mangel an Sicherheit in den meisten Gegenden Syriens hat zur Folge, dass vor allem schwächere Gesellschaftsmitglieder – Frauen und Kinder – vermehrt Opfer sexueller Übergriffe oder Vergewaltigungen werden. Viele Familien sehen in der Kinderehe einen Ausweg aus dieser Gewalt, da sie glauben, dass ein Ehemann ihre Tochter beschützen kann.
Amirah war 15 Jahre alt als ihr Vater sie zwang, einen 30-jährigen Mann zu heiraten. Sie versuchte vergeblich, sich zu widersetzen, um weiter zur Schule gehen zu können. Auch in ihrer Heimatstadt war durch die Gewalt das Risiko, vergewaltigt oder gekidnappt zu werden, extrem hoch. Kurz nach ihrer Hochzeit begann ihr Ehemann, sie zu schlagen und zu demütigen, weil sie in ihrem jungen Alter nicht in der Lage war, einen Haushalt zu führen. Als sie schwanger wurde und ein Mädchen zur Welt brachte, drohte er damit, sie für eine ältere und gebildetere Frau zu verlassen. Kurz nach dem ersten Geburtstag des Mädchens ließ sich Amirahs Mann von ihr scheiden; sie musste mit ihrer Tochter in ihr Elternhaus zurückkehren. Das Trauma der Misshandlung hatte bei ihr häufige Kopfschmerzen und andere körperliche Leiden, sowie psychische Probleme zufolge. Weil sie bereits verheiratet war ist es unwahrscheinlich, dass sie in Zukunft ihre schulische Ausbildung beenden, oder wieder heiraten kann. Das schließt sie von einer Vielzahl sozialer und wirtschaftlicher Chancen aus.
Der Konflikt in Syrien ist die größte menschengemachte humanitäre Katastrophe seit dem zweiten Weltkrieg. Schätzungsweise 13,5 Millionen Menschen in Syrien benötigen humanitäre Hilfe und 4,9 Millionen davon leiden in schwer zugänglichen, belagerten Regionen. Über die Hälfte der syrischen Bevölkerung wurde mehr als einmal vertrieben und 4,8 Millionen Menschen sind in die Nachbarländer geflohen. Zusätzlich sind 6,3 Millionen Menschen gezwungen worden, innerhalb Syriens umzusiedeln und Kinder machen fast die Hälfte aller vertriebenen Syrer und Syrerinnen aus. In friedlichen Gegenden verlassen Menschen ihre Heimat, um Chancen wahrzunehmen, beispielsweise in den Bereichen Bildung oder Arbeit. In Syrien sind Menschen jedoch aus einem anderen Grund mobil: Gewalt zwingt sie, ihre Heimat hinter sich zu lassen und sicherere Orte aufzusuchen.
Bis 2017 sind mehr als 400.000 Menschen durch den Krieg in Syrien umgekommen; zusätzlich ist die Gewalt gegen Zivilisten – insbesondere Kinder – dramatisch angestiegen. An Orten wie Internierungslagern, Kontrollpunkten und sogar Privathäusern gibt es häufige Berichte von sexueller Gewalt, wie systematische Vergewaltigungen von Frauen und jugendlichen Mädchen. Diese Form von Gewalt ist besonders verbreitet, wenn die männlichen Familienoberhäupter abwesend sind, oft durch Tod oder Gefangenschaft.
Zudem sind paramilitärische Gruppen oft in Missbrauch und Gewalt involviert. Dazu gehören Massaker, Ermordungen, Entführung von Zivilisten (insbesondere Kindern) und systematische Vergewaltigung als Kriegstaktik. Viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) berichten fortwährend davon, wie weitverbreitet Vergewaltigungen, sexuelle Übergriffe und Belästigungen sind – auch gegenüber Minderjähriger und jugendlicher Mädchen. Berichte der Vereinten Nationen und verschiedener NGOs zeigen, dass die Anzahl der Fälle von Vergewaltigungen und andere Formen extremer sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen zwischen einigen hundert und einigen tausend jährlich liegt.
Die extreme Gewalt zwingt eine erhebliche Anzahl syrischer Familien – wie zum Beispiel Amirahs – dazu, ihre jugendlichen Töchter zu verheiraten, um sie vor sexuellen Übergriffen und Belästigungen zu schützen. Deshalb wird die Zwangsverheiratung von Kindern in manchen Teilen Syriens als Strategie gegen die Gewalt immer verbreiteter. Insbesondere jugendliche Mädchen sind davon betroffen; sie werden von ihren Eltern gezwungen, erwachsene Männer zu heiraten, die manchmal mehr als 20 Jahre älter sind als sie.
Leider schützt Heirat Mädchen in der Realität nicht vor Gewalt, im Gegenteil: In Fällen wie dem von Amirah kann es sie häuslicher Gewalt aussetzen oder ihnen Kinder bescheren, die sie in diesem Alter noch nicht angemessen versorgen können.
Armut
Ernährungssicherheit ist eine große Herausforderung in Syrien und ein Großteil der syrischen Bevölkerung lebt heute in Armut. Deswegen werden jugendliche Mädchen oft verheiratet, um die finanziellen Nöte der Haushalte zu lindern.
Fatin wuchs ab einem Alter von zwei Jahren bei ihren Großeltern auf. Während der Krieg in Syrien wütete, bewegte wachsende Armut ihren Großvater dazu, sie in eine Ehe mit einem 45-jährigen Mann zu zwingen. Als 14-jähriges Mädchen war es ihr nicht möglich, die sexuellen Bedürfnisse ihres Ehemannes zu befriedigen, was Wutanfälle und Missbrauch nach sich zog. Er brach ihr mehrmals den Arm und sie versuchte zwei Mal, der Situation durch Selbstmord zu entkommen. Sie floh häufig in das Haus ihrer Großeltern, aber ihr Großvater brachte sie jedes Mal zu ihrem Mann zurück. Mit 16 brachte sie einen kleinen Jungen zur Welt; kurz darauf ließ sich ihr Mann von ihr scheiden und nahm den Sohn mit nach Belgien. Sie wird ihren Sohn wahrscheinlich nie wiedersehen und wie bei Amirah steht es aufgrund der geschiedenen Ehe schlecht um ihre Zukunftschancen.
Der Bürgerkrieg in Syrien hat die Wirtschaft des Landes größtenteils zum Erliegen gebracht. Die Arbeitslosigkeit ist hoch; unter den Binnenvertriebenen liegt die Quote bei jungen Frauen oberhalb von 64% und für junge Männer bei über 23%. Weiterhin ist die Arbeitslosigkeit unter Frauen, die einen Haushalt ohne Mann führen, stark angestiegen. 85% der Syrer leben momentan unterhalb der Armutsgrenze und 69% leben sogar in absoluter Armut, im Vergleich zu 35% vor Kriegsbeginn.
Viele syrische Familien glauben nun, dass die frühe Heirat von Mädchen einen Beitrag zur Lösung der Armutsproblematik leistet. Die hohe Arbeitslosigkeit mit der sie begleitenden Armut treibt Familien dazu, ihre jugendlichen Töchter zu verheiraten, um die wirtschaftliche Belastung zu verringern. Eine Person weniger im Haushalt bedeutet schließlich einen Esser weniger.
Bildung
Der Bildungsstand eines Mädchens spielt während ihres ganzen Lebens eine fundamentale Rolle bei wesentlichen Entscheidungen, wie Heirat.
Durch den Konflikt in Syrien ist die Infrastruktur des Landes zerstört, insbesondere das Gesundheits- und Bildungssystem. Der Mangel an Bildungsmöglichkeiten gilt weithin als einer der Hauptfaktoren, der zu Kinderehe führt.
Vor dem Konflikt hatten 97% der syrischen Kinder die Grundschule besucht und die Alphabetisierungsrate lag bei über 90%. Heute ist ein Drittel der syrischen Schulen nicht mehr in Betrieb und die Hälfte der syrischen Kinder geht nicht zur Schule. Viele Eltern betrachten Bildung nicht mehr als Priorität, besonders für ihre Töchter, da die Armut den Lebensunterhalt zur Hauptsorge werden lassen hat. Infolgedessen suchen viele Familien Arbeit für ihre Söhne und zwingen ihre jungen Töchter zur Heirat, um sich der finanziellen Belastung zu entledigen. Wenn sie einmal verheiratet sind, haben die Mädchen wenig Aussichten darauf, ihre Bildung fortzusetzen.
Kinderehe ist eine Lösung, der sich viele Familien bedienen, um die extreme Gewalt und Armut in Syrien zu bewältigen. Allerdings schafft diese „Lösung“ größere Probleme und verschärft die Folgen des Krieges. Mädchen werden dadurch häuslicher Gewalt, Schwangerschaften in zu jungem Alter und noch größerer Armut ausgesetzt, und sie werden zudem Teil einer wachsenden verlorenen Generation, wie Sie im nächsten Teil dieser Serie lesen werden.
Quellen:
McKernan, Bethan. (15. März 2017). “Syria six years on: The ‚worst man-made disaster since Second World War‘.” The Independent.http://www.independent.co.uk/news/world/middle-east/syria-civil-war-six-years- anniversary-bashar-al-assad-aleppo-manjid-siege-second-world-war-ii-a7631871.html
Girls Not Brides. (20. Juni 2017). “Child Marriage and the Syrian Conflict: 7 Things You Need to Know.” https://www.girlsnotbrides.org/child-marriage-and-the-syrian-conflict-7-things-you-need-to-know/
UN OCHA. (1. Dezember 2016). 2017 Humanitarian Needs Overview, Syrian Arab Republic. https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/2017-humanitarian-needs-overview-syrian-arab-republic-enar
The World Bank. (2017). Syrian Arab Republic. The World Bank https://data.worldbank.org/country/syrian-arab-republic
US Department of State. (29. März 2017). “Syria 2016 Human Rights Report.” Bureau of Democracy, Human Rights, and Labor.
UN OCHA. (30. August 2018). “Syria: 2017 Humanitarian Response Plan Monitoring Report, January – June 2017.” https://reliefweb.int/report/syrian-arab-republic/syria-2017-humanitarian-response-plan-monitoring-report-january-june
WHO. (Januar 2018). “Adolescent pregnancy Fact Sheet.” http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs364/en/