Gastbeitrag
Syrien nach Assads Sturz: Dschihadistische Armee, radikale Religionslehre und Angriffe auf Minderheiten
Yahya Al Aous, Berlin
27.08.2025
In Syrien wurde im Dezember 2024 der langjährige Diktator Assad gestürzt. Erleichterung und Hoffnung auf eine bessere Zukunft bestimmten die folgenden Wochen. Doch die Lage im Land bleibt herausfordernd. Der syrische Journalist und Menschenrechtsaktivist Yahya al Aous schildert seine Sicht der aktuellen Entwicklungen:
Seit die HTS (ehemals al-Nusra-Front) am 8. Dezember 2024 die Macht in Damaskus übernommen hat und damit Jahrzehnte der Herrschaft der Assad-Familie beendete, wurde der Weg für Tausende islamistischer Extremisten frei, die zuvor in Idlib gegen das Assad-Regime kämpften. Diese strömten nach Damaskus und brachten Tausende weiterer radikaler ausländischer Kämpfer mit sich, die plötzlich Kontrolle über die Ministerien, Institutionen, das Bildungssystem und die Medien des Staates übernahmen.
Begleitet wurde dies von einem umfassenden Machtvakuum, das der unterlegene syrische Staat hinterlassen hatte. So konnte die HTS ihre Anhänger auf die wichtigsten und sensibelsten Posten setzen: Verteidigungsministerium, Innenministerium, Außenministerium, Medien und sämtliche Bereiche des Bildungswesens.
Innerhalb weniger Tage veränderten sich die syrischen Städte deutlich: Kämpfer mit langen Bärten und Handfeuerwaffen durchstreiften die Straßen, zerstörten Alkoholgeschäfte, stürmten Nachtclubs und schlugen auf Anwesende ein, belästigten Frauen ohne Kopftuch und warfen ihnen Unmoral vor. Die syrischen Universitäten, in denen zuvor religiöse Themen tabu waren, verwandelten sich in Orte der Missionierung. Anstelle von Laboren und Vorlesungssälen wurden Moscheen gebaut, gemeinschaftliches Gebet wurde zum Alltag.
In Grund- und Mittelschulen erfolgte die Trennung von Mädchen und Jungen. Neue Fächer zur islamischen Scharia wurden in sämtliche Lehrpläne aufgenommen, begleitet von einer radikalen Religionslehre, die das Tragen kurzer Hosen oder von Kleidung mit englischer Beschriftung für Schülerinnen und Schüler verbot.
Im Gegensatz dazu distanzierte sich der offizielle politische Diskurs von diesen Praktiken, indem er sich auf Menschenrechte und Gerechtigkeit berief. Berichte von vor Ort widersprechen dem, wurden jedoch als „Einzelfälle“ dargestellt, die nicht die Regierungspolitik widerspiegeln.
Verfassungsgebung und Justiz
Der neue Präsident zögerte nicht lange: Im vergangenen März verkündete er vor einem siebenköpfigen Komitee eine verfassungsgebende Erklärung, die ihm weitreichende Befugnisse über juristische und gesetzgeberische Ernennungen einräumte – ohne jegliche Kontrollinstanz. Dies löste große Besorgnis über die Fortführung von Rechtsstaatlichkeit und dem Schutz der Menschenrechte aus. Der Präsident rechtfertigte diese außergewöhnlichen Befugnisse als notwendig für die Übergangsphase in Syrien – obwohl sie in Wahrheit eher den Weg für ein neues diktatorisches Regime ebnen, anstatt den Übergang zu einer demokratischen Ordnung zu erleichtern.
Auch in der Justiz übernahm der Präsident die Kontrolle, indem er sämtliche sieben Mitglieder des „Obersten Verfassungsgerichts“ eigenständig ernannte – ohne Aufsicht durch das Parlament oder andere Instanzen. Damit fehlen jegliche Mechanismen zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit.
Blutige Angriffe auf Minderheiten
Nach jahrzehntelanger Herrschaft einer Minderheit in Syrien übernahm nun eine Regierung unter einem sunnitischen Präsidenten mit islamistischem Hintergrund die Macht. Tausende gläubige Sunniten wurden davon inspiriert und bei einigen der Traum eines neuen Umayyaden-Kalifats wiederbelebt. Dies trieb viele in den religiösen Extremismus und zur Übernahme salafistischer Ideologien.
Deutlich wurde dies bei Angriffen auf die Küstenstädte, die mehrheitlich von Alawiten – der Glaubensgemeinschaft des abgesetzten Präsidenten Baschar al-Assad – bewohnt werden. Bei diesen Angriffen wurden über 1.500 Menschen getötet, die meisten von ihnen unbewaffnete Zivilisten.
Auslöser der Angriffe war ein Angriff von Assad-Anhängern auf die Sicherheitskräfte der Regierung von Hayʾat Tahrir aš-Šām. Die offiziellen Truppen begnügten sich jedoch nicht mit einer Vergeltung, sondern nutzten die Gelegenheit, um Alawitendörfer anzugreifen, deren Bewohner zu töten und deren Häuser niederzubrennen. Es wurde der „heilige Dschihad“ gegen die Alawiten erklärt und Kämpfer sowie Zivilisten zur Teilnahme aufgefordert.
Ein ähnliches Szenario wiederholte sich in der mehrheitlich von Drusen bewohnten Provinz Suwaida – diesmal jedoch mit noch größerer Eskalation. Die Regierung nutzte einen lokalen Konflikt zwischen der drusischen und der beduinischen Bevölkerung, um einzugreifen und die Drusen zu unterwerfen. Von Anfang an weigerten sich die Drusen, den Regierungstruppen den Zutritt zu ihrem Land zu gestatten, aus Angst vor einem weiteren Massaker wie dem an der Küste. Der Angriff auf diese zuvor friedliche Stadt im Süden Syriens begann am 13. Juli und dauerte mehr als zwei Wochen. Da es den Regierungstruppen aufgrund des erbitterten Widerstands der drusischen Verteidiger nicht gelang, die Stadt einzunehmen, mobilisierte die Regierung Tausende Stammeskämpfer, um die „ungläubigen Drusen“ oder „Kuffar” zu bekämpfen. Ausgestattet mit Waffen und logistischer Unterstützung drangen diese Kämpfer in drusische Dörfer ein, brannten sie nieder und töteten Zivilisten. Zahlreiche Videoaufnahmen, die von den Angreifern selbst erstellt wurden, zeigen schwere Menschenrechtsverletzungen, darunter Tötungen von Kindern, sexuelle Gewalt und öffentliche Hinrichtungen. Infolge der Angriffe wurden ganze Familien ausgelöscht.
Im Gegenzug vertrieben drusische Gruppen etwa 1.500 Beduinen aus der Region, um die Zerstörung ihrer Städte und Dörfer zu rächen.
Seitdem ist Suwaida von Regierungstruppen belagert; die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Medikamenten, Wasser, Babynahrung, Treibstoff und weiteren lebensnotwendigen Gütern ist stark eingeschränkt.
Yahya Al Aous ist ein syrischer Menschenrechtsaktivist und Journalist. Er lebt mit seiner Familie seit April 2015 in Berlin und schreibt u.a. für das „Handelsblatt“ und die „Süddeutsche Zeitung“.
Foto im Banner von Mahmoud Sulaiman auf Unsplash
